D wie Dichtestress
Letzte Woche Mittwoch fuhr ich mit dem Fahrrad ein kleines Stück über einen Gehweg. Sogleich wurde ich von einer älteren Dame angesprochen: „Der Weg ist für Fußgänger – müssen Sie hier fahren?“.
Ich stieg vom Rad, blickte sie an und versuchte zu erklären, dass ich keine andere Möglichkeit habe um den Ebertplatz herum zu kommen als dieses Stück Gehweg zu befahren. Sie hörte mir nicht zu, dafür mischte sich ein anderer Fußgänger ein und gab der Dame Recht.
Sie daraufhin zu ihm: „Man muss doch etwas sagen. Sonst geht man ja kaputt“.
Diese Aussage fand ich bemerkenswert, weil richtig. Ja, man (und ganz besonders frau) sollte seine ärgerlichen Gefühle nicht immer runterschlucken, sondern (angemessen) äußern. Das trägt ganz sicher zur eigenen Gesundheit bei, Seelenhygiene gewissermaßen.
Doch in dem Fall der Enge auf einem Gehweg nützt es nicht viel.
Denn – zumindest in der Großstadt – leiden Fußgänger, Rad- und Autofahrer wie auch Menschen, die Bus oder Bahn nehmen, unter ein und demselben Phänomen: Dichtestress. Dichte und Stress. Dichte, die Stress verursacht.
Überall zu viele Menschen. Es knubbelt sich an allen Stellen: an den Fußgängerübergängen, auf der Straße, wo sich Räder und Auto den viel zu schmalen Weg teilen sollen, in den Straßenbahnen nicht nur während der Morgen- und Abendstunden. Dort gibt es kein Entrinnen mehr vor dem Atem der anderen im Nacken, vor unbeabsichtigem Angefasst-werden, vor Drängelei und bösen Worten.
Dann ist das Genervt-Sein groß und während der Stresspegel steigt, sinkt das einzige Potential, das nun noch Abhilfe schaffen könnte: Rücksichtsnahme und Höflichkeit. Leider. Schade.
Wer Achtsamkeit praktiziert, hat hier ein wunderbares Übungsfeld. Denn Gelassenheit übt sich nirgends besser ein als im täglichen Leben, im Miteinander mit anderen – also im Alltag und nicht allein im stillen Kämmerlein auf einem Meditationskissen mit Kräutertee und Wellnessmusik.
Mit voller Aufmerksamkeit durch eine Menschenmenge gehen, entschleunigten Schrittes, freundlich bleiben trotz Angestoßen-werden, Vortritt lassen mit einem Lächeln – das ist gelebte Achtsamkeit.
Auch allen Konfliktscheuen kann ich eine S-Bahn-Fahrt im Berufsverkehr nur empfehlen.
Wie so oft will sich noch jemand schnell vor der schließenden Tür in den Eingangsbereich drängeln, obwohl nicht ein Millimeter mehr Platz ist? Statt Augendrehen und auf dem eigenen Platz beharren, reicht oftmals ein freundliches in den Raum Hineinrufen: „Können Sie bitte alle noch etwas zusammenrücken, es möchte noch jemand mitfahren!“. Natürlich ernten Sie Stöhnen, denn die Enge ist schwer erträglich. Doch zugleich rücken die Menschen zusammen und geben Platz für einen weiteren.
Das ist gelebte Solidarität und „gewaltfreie Kommunikation“. Die abendliche Fahrt nach Hause: ein Übungsfeld, das man für sich nutzen kann;).
Der Automatismus, schnell ein genervtes oder freches Wort jemanden entgegenzusetzen, der einen von der Seite her angeraunzt hat, greift unmittelbar. Wenn wir aus der unfreundlichen Atmosphäre an Fußgängerüberwegen, Bahnsteigen und im Kampf um den freien Parkplatz heraus wollen, dann sollten wir – wie immer – bei uns selbst beginnen. Nichts öffnet mehr die Türen wie Zuvorkommenheit und ein freundliches Lächeln.
Dann wird Dichtestress kein Stress mehr sein, sondern die Straße ein Ort der Begegnung. Sie finden mich romantisch und idealistisch? Ich sehe keine Alternative dazu.